Die neuen Technolgien und ihre curricularen

Konsequenzen

 

Auszug aus: H. T. Thielen: Die Problemkonstellationen der neuen Technologien und ihre

                                           curricularen Konsequenzen.

 

Bildungspolitische Konsequenzen


Um alle Heranwachsenden auf eine wechselvolle und noch unbekannte Zukunft in der technisierten Gesellschaft vorzubereiten, ist ein umfassender Bildungsbegriff für alle Schulstufen gefordert, der persönlichkeitsbildende Inhalte und eine hochgradige Handlungskompetenz in den Vordergrund stellt. Dabei dürfen weder - wie in der neuhumanistischen Bildung - die praktischen, politischen und technischen Bezüge ausgeklammert werden, noch darf Bildung bedenkenlos mit dem Begriff ‘Bedarf’ ersetzt und dem Primat der Wirtschaft untergeordnet werden.

Im Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland sind die allgemeinbildenden und die berufsbildenden Schulen heute noch kategorisch getrennt. Dieser Dualismus hat historische Wurzeln; aus der neuhumanistischen Tradition resultierend, stehen die ‘Realien’ (Aus-bildung) und ‘Humaniora’ (Bildung) im direkten Gegensatz zueinander.[1]

In der klassischen beruflichen Bildung steht der konkrete Beruf im didaktischen Mittelpunkt der Ausbildung. Das Berufsbild, also das angestrebte qualifikatorische Ergebnis der Ausbildung, ist klar umrissen und hat den Stellenwert einer verpflichtenden Rechtsverordnung.[2] Die gesamte berufliche Ausbildung ist faktisch festgeschrieben und läßt wenig Freiraum für individuelle Entwicklungen, innovative Schritte und kreative Verarbeitung neuer und unvorhergesehener Ereignisse. Der Auszubildende übernimmt diese ‘spezifische Subjektstruktur’ mit konkretem Fachwissen, strukturell verankerten Motivlagen, Fähigkeitsprofilen, Lebensorientierungen, Deutungsmustern und entsprechenden Handlungsperspektiven weit über das rein Fachliche hinaus. Insgesamt bedeutet die abgeschlossene Berufsausbildung das Ende der ‘Lehrzeit’ und damit den Übergang in ein festes, meist das gesamte Arbeitsleben andauerndes, Beschäftigungsverhältnis.[3]

Während die Lerninhalte der beruflichen Bildung aus der spezifischen praktischen Anwendung resultieren, erwirbt man die Wissenselemente der allgemeinen Bildung, weil sie zu der Entwicklung und Reife einer persönlichen Handlungskompetenz beitragen. Man lernt die "Stoffe und Fächer der Allgemeinbildung nicht, weil man diese Inhalte im späteren Leben brauchen würde, sondern weil die Beschäftigung mit und die Aneignung von diesen Inhalten ‘bildend’ wirken,... Deshalb, so besagt jene Bildungstradition, müssen im allgemeinbildenden Schulwesen die Fachinhalte auch gar nicht bis zur Anwendungsreife gelernt werden, und deshalb geht es auch gar nicht primär um den Fächer- und Wissenskanon, sondern eben um die persönlichkeitsbildende Auseinandersetzung mit diesen Stoffen.“[4]

Das traditionelle System der beruflichen Bildung wird seit Jahrzehnten in Frage gestellt, da insbesondere die Fähigkeiten zur gesellschaftlich-politischen Partizipation als auch zahlreiche, vorwiegend kulturelle Bereiche jenseits des Berufes nicht ausreichend gefördert werden.[5] Infolge der Analyse der erforderlichen Qualifikationen und Kompetenzen wird deutlich (siehe Kapitel 4), daß, aufgrund technologischer Innovationen, vielschichtige und bedeutsame Veränderungen in Richtung der allgemeinen Bildungsinhalte stattgefunden haben. Gegenwärtig multiplizieren die neuen Technologien diese Entwicklung und drängen darauf, das zweigeteilte Bildungswesen neu zu überdenken.

Korrekturen im beruflichen Bereich sind seit Jahrzehnten unter dem Schwerpunkt ‘Chan-cengleichheit’ und ‘Sozialisation’ thematisiert worden.[6] Eine formale Chancengleichheit, d.h. daß niemandem bestimmte Bildungswege, Ausbildungsgänge und Arbeitsplätze verschlossen bleiben, ist in der Bundesrepublik Deutschland gegeben. Die materialen Unterschiede in den Lebensmöglichkeiten bewirken jedoch, daß sich "überwiegend jene Gruppen durchsetzen, denen diese Stellen seit jeher offenstanden, und die übrigen weiterhin das Nachsehen haben[7].

Die divergierende Zielsetzung beruflicher und allgemeiner Bildung, verbunden mit einer differierenden Methodenkonzeption, führen nach Bammé/Eggert/Lempert (1983) konsequent zur weiteren Ausprägung schichtspezifischer Persönlichkeitsstrukturen. Das Ergebnis ist in den überwiegenden Fällen eindeutig. "Insbesondere entscheiden die Ausleseprozesse am Ende der Grundschulzeit über die weiteren beruflichen Möglichkeiten ihrer Absolventen: sie werden auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium bzw. auf die entsprechenden Kurse in der Gesamtschule verteilt, deren Absolventen entweder, wie die ehemaligen Hauptschüler, sofort Tätigkeiten auf der untersten Stufe der Betriebshierarchie aufnehmen, im günstigsten Fall eine Lehre durchlaufen und Facharbeiter werden, oder, wie die ehemaligen Realschüler oder Gymnasiasten, über weiterführende Ausbildungsgänge in höhere Hierarchieebenen einrücken.“[8][9]

Auch Brater (1987) sieht in der beruflichen Bildung neben der speziellen beruflichen Qualifikation die explizite Ausprägung der soziokulturellen Persönlichkeit. "Alle diese objektiv ‘subjektkonstituierenden’ Bezüge der Berufsausbildung machen selbstverständlich auch deutlich, daß selbst die Berufsausbildung niemals reine ‘Fachausbildung’ war oder sein könnte, sondern daß sie nicht weniger als die Allgemeinbildung immer schon ‘Persönlichkeit’ (mit)bildet, nur eben meist unbegriffen und ungewollt und mit pädagogisch zweifelhaften Resultaten.“[10] Die persönlichkeitsbildende Prägung der klassischen Berufsausbildung ist reduziert auf den ‘guten Fachmann’, der sich voll mit dem Betrieb identifiziert und bestimmte technische Arbeiten fachgerecht und exakt auszuführen weiß.

In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion herrscht heute Konsens dahingehend, daß alle Heranwachsenden das Recht auf eine einheitliche Bildung haben, verstanden als Bedingung der Selbstbestimmung und freien Entfaltung der Persönlichkeit, "als Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlich gewordenen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft und als Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen Aufgaben, Problemen, Gefahren[11]. So muß "Bildung - wenn Bildung tatsächlich als demokratisches Bürgerrecht und Bedingung der Selbstbestimmung anerkannt wird - Bildung für alle sein“[12].

Seit einiger Zeit werden vergleichbare Reformbemühungen im Bereich der Berufsbildung verstärkt von modernen Industriebetrieben gefordert. Nach Brater (1987) bekommt infolge dieses Anspruchs die These von der technisch induzierten Tendenz zur Höherqualifizierung für eine fortschrittliche Bildungspolitik hohe Aktualität, obwohl die Argumentation weniger aus Gründen der individuellen Selbstbestimmung, sondern vielmehr aus utilitaristischen Motiven erfolgt, da die inhaltliche Seite der geforderten Kompetenzen nicht mehr allein aus den fachspezifischen Qualifikationen abgeleitet werden kann. Die Forderung nach allgemeiner Entfaltung menschlicher Fähigkeiten erhält somit die entscheidende Unterstützung durch die technische Entwicklung selbst, denn der tiefgreifende Wandel im Beschäftigungssystem erfordert Qualifikationen und Kompetenzen, die von der traditionellen Berufsausbildung gegenwärtig nicht oder nur partiell vermittelt werden[13].

Damit ist das Konzept der beruflichen Erstausbildung äußerst fragwürdig geworden, da sie faktisch immer noch gezielt auf bestimmte Berufstätigkeiten ausbildet und nicht auf ein höchst wechselvolles, kaum mehr überschaubares oder vorhersehbares (Berufs)Leben, in dem mit einiger Sicherheit das Gelernte nicht die gesamte Berufslaufbahn angewandt werden kann, sondern in dem man sich wiederholt neu orientieren muß. "Die realen Verhältnisse selbst erzwingen es, neu über die Probleme der Spezialisierung und Vereinseitigung bzw. über die Erhaltung einer realisierbaren Vielseitigkeit und die Bedingungen und Formen einer lebenslangen ‘Entfaltung’ der individuellen Persönlichkeit nachzudenken. Deshalb wird sich die Ausbildung der Zukunft nicht mehr auf die Vermittlung eines beruflich abgegrenzten Kanons von Fachkompetenzen beschränken können, sondern sie wird sehr viel stärker auf den biographischen Umgang mit den Fachkompetenzen eingehen müssen.“[14]

Die berufliche Bildung kann folglich nicht mehr isoliert vom Beruf als Orientierungsgröße ausgehen, sondern sie muß stattdessen fragen, welche allgemeinen Fähigkeiten und Handlungskompetenzen die Heranwachsenden benötigen, um den beschriebenen Anforderungen des (Berufs-)Lebenslaufs gerecht zu werden. Im Kern muß die berufliche Ausbildung derart reformiert werden, daß eine Umstellung der Ausbildung von der fachspezifischen Spezialbildung hin auf die Befähigung zu selbständiger Problemlösung erfolgt. "Hier werden Konturen einer neuen gesellschaftlichen Konstitution des Subjekts sichtbar, d.h. aus dem Gesellschaftsprozeß selbst geht ein neues ‘Persönlichkeitsverständnis’ real hervor, eine neue historische Stufe der individuellen Entwicklungsmöglichkeit wird erreicht und gesellschaftlich notwendig. Damit ist aber der Fall eingetreten, daß es durchaus, und zwar ohne daß ihr ‘Nützlichkeitsprinzip’ aufgegeben wird, Aufgabe der Berufsbildung geworden ist, diese Persönlichkeit bewußt zu bilden.“[15] "Nur ein Mehr an umfassender Allgemeinbildung - nicht vertieftes Fachwissen in Elektronik oder Datenverarbeitungstechnik -, die die zentralen technologischen, sozialen, kulturellen und historischen Entwicklungen der Gesellschaft mit einbezieht, kann die Heranwachsenden in die Lage versetzen, sich in diesen Veränderungsprozessen zu behaupten, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen, kann verhindern, daß sie zu ‘funktionalen Analphabeten’ werden ... .“[16]

Summa summarum ist in diesem Bildungsbegriff implizit der Gedanke der Emanzipation des Individuums, wie er im Neuhumanismus formuliert ist, bejahend enthalten. "Die möglich allseitige Befähigung aller und zugleich die Voraussetzung und Grundlage freier Betätigung in Politik, Kultur, Wissenschaft und Bildung, diese Betätigungsfelder bleiben dann nicht länger den arbeitenden Menschen verschlossen.“[17] Darüber hinaus werden auch die veränderten Anforderungen des Beschäftigungssystems weitgehend erfüllt. Die inhaltliche Seite der geforderten Kompetenz determiniert sich ja heute nicht mehr einzig durch die Qualifikationsansprüche. Gefragt ist kein konkretes Arbeitsvermögen sondern der Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Herausbildung solcher kognitiven Fähigkeiten, die sich durch einen hohen Allgemeinheitsgrad und dementsprechend durch leichte Transferierbarkeit auszeichnen. Die berufliche Bildung erhält hier extrafunktionale Züge, da primär kein berufsspezifisches Spezialwissen im Zentrum des Unterrichts steht, sondern die didaktisch hochwertigen Kompetenzen, die in der Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt entwickelt werden. "Bei all diesen an Bedeutung zunehmenden Fähigkeiten handelt es sich in ihrem Kern ausnahmslos um Ich-Leistungen, d.h. um solche, bei denen sich der einzelne als selbständiges Objekt, als initiativer Auslöser von Prozessen betätigt, bei denen er Prozesse beginnt oder in bereits laufende Prozesse eingreift, sie weiter entwickelt oder umgestaltet. Eine Ausbildung, die auf diese Anforderungen vorbereiten will, steht somit vor der Aufgabe, den einzelnen zum autonomen, ich-haften Handeln befähigen zu müssen. Das Beruflich-Fachliche ist dabei lediglich ein konkreter Anwendungsfall, im übrigen aber Medium des Erwerbs, der Entwicklung jener neuen Subjektqualitäten. Diese unterscheiden sich von den Leitbildern der neuhumanistischen ‘Allgemeinbildungsvorstellung’ nicht in ihrer pädagogischen Substanz, sondern nur dadurch, daß hier der Persönlichkeitsbegriff nicht als abstrakte philosopische Idee gefaßt werden muß, sondern gewissermaßen aus den konkreten Erfordernissen der Arbeitsverhältnisse selbst hervorgeht. Hier abgelesen, verliert der Persönlichkeitsbegriff auch die charakteristischen Einseitigkeiten seiner neuhumanistischen Fassung. Konsequent weitergedacht, führt die wirtschaftliche Bedarfsorientierung zur Forderung nach einer autonomen (Persönlichkeits-) Bildung. Diese Anforderung macht Berufsbildung perspektivisch zur allgemeinen Menschenbildung.“[18]

Die moderne berufliche Ausbildung kann heute die Zielsetzung verwirklichen, die in der neuhumanistischen Bildungsphilosophie nur Manifest geblieben ist. Ziel der Bildungsforschung für die Zukunft kann daher nur ein die Dualität integrierendes System sein, das die bisher getrennten Bildungsbereiche berufliche Bildung versus allgemeine Bildung zu einer Einheit umwandelt. Das berufliche Curriculum kann nicht mehr allein vom Arbeits- und Wirtschaftsprozeß her konzipiert sein, sondern es muß auf einem vollständigen pädagogischen Konzept beruhen. Nicht nur der arbeitende Mensch, sondern auch der kritisch denkende Mensch als Staatsbürger muß im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen, "denn das Ergebnis des pädagogischen Prozesses ist nicht das Produkt, sondern der Mensch, und das Ziel ist hier nicht der Gewinn, sondern die Erfüllung einer gesellschaftlichen Aufgabe“[19].

Ein Bildungssystem, das humane, soziale und technische Kompetenzen[20] gleichberechtigt vermittelt, bedeutet in beiden Schulformen eine breitere Öffnung für gegenseitige Lerninhalte. Die allgemeinbildenden Schulen dürfen nicht weiter am Beschäftigungssystem vorbeizielen, sondern sie müssen inhaltlich und methodisch auf das Beschäftigungssystem und weitergreifend auf das soziale System im Ganzen bezogen sein, und die berufliche Bildung muß durch Vermittlung von sozialen und humanen Kompetenzen eine allgemeinbildende Qualität gewinnen, so daß das Lernziel nicht die Abhängigkeit, sondern die Selbständigkeit ist. Eine logische Konsequenz dieser dialektischen Entwicklung besteht darin, die berufliche Erstausbildung nicht an den traditionellen Berufen, sondern an der allgemeinen Bildung zu orientieren, an einer ‘Humaniora’, die sich der umfassenden Thematik der modernen Technologien und den ‘Realien’ öffnet. Die pädagogische Aufgabe unserer Tage besteht somit aus einer neuen - auf individuelle Existenz in Demokratie und technischer Zivilisation hin ausgelegten - Synthese von allgemeiner und beruflicher Bildung.

[1] vgl. hierzu Blankertz 1985.

[2] Die zentrale Rechtsgrundlage ist das Berufsbildungsgesetz (BBiG); Art, Ziel bzw. sachliche und zeitliche Gliederung werden durch den Ausbildungsrahmenplan konkretisiert.

[3] Brater 1987, S. 122 ff.

[4] ebda. 1987, S. 119.

[5] ebda. 1987, S. 119 ff.

[6] vgl. z.B. Lempert 1974; Lipsmeier 1983.

[7] Lempert/Franzke 1976, S. 22.

[8] Bammé,A., Eggert, H. u. Lempert, W. 1983, S. 59 f.

[9] Seit einigen Jahren geben rheinland-pfälzische Schulen ‘Empfehlungen’ für die Schullaufbahnentscheidungen, die für die Eltern keine bindende, sondern beratende Funktion haben.

[10] Brater 1987, S. 126, vgl auch Beck 1980.

[11] Klafki 1990, S. 300 f.

[12] ebda. 1990, S. 300; vgl. auch Dahrendorf 1965.

[13] vgl. Brater 1987, S. 128.

[14] Brater 1987, S. 128.

[15] ebda. 1987, S. 131.

[16] Oberliesen 1988, S. 234 f.

[17] Tippelt 1981, S. 102 .

[18] Brater 1987, S. 133.

[19] Krings 1972, S. 54.

[20] In diesem Zusammenhang ist der Begriff ‘techn. Kompetenz’ nicht mit Spezialwissen belegt, sondern mit   dem Wissen über die globalen Chancen und Gefahren der Technik.